Wie lange kann der Pater wohl predigen?

Die Predigten, die Pater Kentenich jeden Sonntag in St. Michael in Milwaukee hielt, waren für seine Zuhörer recht anspruchsvoll. Einmal wegen des Inhalts: Pater Kentenich war der Ansicht, man müsse der Gefahr wehren, die Zuhörer zufriedenzustellen, indem man einfach unterhaltsam predige. In einer durch Existenzkampf und Konsum seelisch verflachenden Gesellschaft müssten die letzten Wahrheiten gekündet, das „nahrhafte Schwarzbrot des Glaubens” ausgeteilt werden. Dann aber auch wegen des Stils: Pater Kentenich sprach kraftvoll, aber doch auch distanziert, jede rhetorische Suggestion bewusst meidend. Zum dritten wegen der Länge. Eine Predigt von dreißig Minuten war eher als kurz zu bezeichnen; fünfunddreißig Minuten und etwas darüber konnte man jederzeit erwarten.
Den Leuten gefiel das verständlicherweise nicht. Dass sie in der Predigt nicht alles verstanden, konnten sie ertragen. Aber dass sie so lang war, das regte einige Gemüter auf. Im kleinen Kirchenchor der „Deutschen Gemeinde” machte sich einmal der Ärger darüber Luft. In der Hitze der Diskussion meinte einer: „Glaubst Du, der Pater könnte drei Stunden an einem Stück predigen, und der Stoff ginge ihm immer noch nicht aus!”

Drei Stunden lang hat Pater Kentenich in Milwaukee nicht gepredigt. Aber dass ihm der Stoff nicht ausging, das sollte sich am Sonntag, den 9. Dezember 1962, zeigen. Die Predigt kündete – das Fest der Unbefleckten Empfängnis vom Vortag nachkostend – die Herrlichkeiten der Gottesmutter. Drei Worte des heiligen Bernhard gliederten die Predigt:
1. Die Gottesmutter ist das Werk Gottes, das alle anderen endlos übersteigt.
2. Auch zu ihrer Verherrlichung wurde die ganze Welt erschaffen.
3. Gott wollte, dass wir keine Gnade erhalten ohne ihre Mitwirkung.

Dann kam die Anwendung: Wir sollen selbst Mariengestalten werden.
Während der Predigt hatte Pater Kentenich, seiner Gewohnheit entsprechend, mehrmals auf seine Armbanduhr geschaut. Dreißig Minuten waren vorbei. Der Gedanke war abgerundet, das „Amen” fällig.

Er aber hob von neuem an: Leo XIII. sagt oft, die Gottesmutter ist ein Wunder. Eine neue Gliederung kündigt sich an (nach fünfunddreißig Minuten): Sie ist ein Wunder in der natürlichen Ordnung, Jungfrau und Mutter zugleich. Auch davon sollen wir ein Abbild sein (vierzig Minuten). Allerdings, „das sind wohl Gedanken, die uns ungewohnt erscheinen...” Mitten im Satz bricht der Prediger ab und meint: „Jetzt weiß ich nicht, wie spät es ist. Meine Uhr steht … Wie spät ist es?” Aus den ersten Reihen erhält er Auskunft: „Zehn vor elf.” – „Du meine Güte …meine Uhr zeigt immer noch zehn nach zehn! Muss ich Schluß machen. Nos cum prole pia."

Und leise in sich hineinlachend eilt er zum Altar, um die heilige Messe fortzusetzen.