Eine große Liebesschule

Sie mögen aber auch weiter fragen, wie es bei uns, die wir uns zusammengefunden haben, mit dem seelischen Ineinander, Miteinander und Füreinander steht. Wie steht es mit dem seelischen Miteinander? Miteinander wollen wir dieselbe große Aufgabe lösen.
Was ist das für eine Aufgabe? Als Werkzeug in der Hand der Gottesmutter wollen wir neue Menschen, eine neue Gemeinschaft schaffen. Das seelische Miteinander mag einigermaßen vorhaben sein, es soll aber in diesen Tagen wieder bewusst in uns hineinsickern. Wir mögen uns gegenseitig nicht kennen, aber wenn wir wissen, dass wir Schönstätter sind, dann wissen wir: wir ringen um ein Ideal.
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Wie steht es mit dem seelischen Ineinander? Haben wir einander einen Platz im Herzen gelassen? Wie steht es mit dem Füreinander? Sind wir verantwortlich füreinander? Die Verantwortung für die Glieder der natürlichen Familie mag da sein, ob aber auch für die übernatürliche Familie, für uns als Schönstattgruppe? Wie mag es da stehen? Mögen in diesem Zusammenhang viele praktische Fragen lebendig werden. Hier geht es erst darum, den Boden des Herzens ein wenig fruchtbar zu machen und aufzulockern.
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Wir sehen auf der einen Seite die modernen Zeitströmungen. Sie wollen keine Gemeinschaft, sondern Masse und Vermassung. Sie fangen den sozialen Trieb des Menschen auf, leiten ihn irre und rauben den Menschen den Persönlichkeitskern. Dann ist er das Stück einer Maschine. dem gegenüber müssen wir dafür sorgen, dass bei allem sozialen Hingegebensein, bei aller Sorge für die anderen auch der Persönlichkeitskern leidet. [...]

Verantwortungsbewusstsein füreinander!

[…] Die Zeit verlangt von uns, dass wir ausgehen vom seelischen Füreinander, von der Sorge füreinander. Was das besagt, lassen Sie sich an einem Beispiel, das der heilige Augustinus gebraucht hat, erklären: ich gehe mit bloßen Füßen über einen Acker. Plötzlich trete ich in einen Dorn. Was wird die Reaktion sein? Alle Glieder des Körpers, alle Fähigkeiten sind in Mitleidenschaft gezogen: der Mund schreit, das Auge schaut nach unten … ein Glied ist krank, und alle Glieder sind in Bewegung gesetzt. Das ist ein Beispiel für das seelische Füreinander, für die Verantwortung füreinander.
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Wir streben miteinander und tragen miteinander dieselben Lasten. Der Apostel Paulus macht uns nachdrücklich darauf aufmerksam: „Einer trage des anderen Last, und so erfüllt ihr das Gesetz.“
Das ist die große Enttäuschung jedes ehelichen Lebens: Im Brautstand, vielleicht vorher noch stärker, hatten wir geglaubt, wir könnten wie Engel miteinander sein, und so durch das Leben schreiten. Was ist das erst ein tiefes seelisches Ineinander, eine wärmende Liebe! Wir haben einander bergen dürfen wie große Kostbarkeiten. Man hat zu wenig die Schatten gesehen. Die erste Liebe hat alles verfärbt. Doch wenn wir länger beieinander sind – das wissen wir alle – zeigen sich Kanten um Kanten. Eigenarten, Unarten, Unebenheiten auf meiner Seite, Unebenheiten auf Seiten des anderen. Wo bleibt dann die bergende Liebe? Jetzt müssen wir das Gegenüber bergen so wie es ist, nicht bergen, wie wir uns das geträumt hatten. Deswegen müssen wir auch sagen: bräutliche Liebe ist meistens keine reale Liebe. Ihre Eigenart besteht darin, dass sie im Gegenüber für gewöhnlich nicht das Du liebt sondern die Idee, die sie sich vom du gemacht hat. Die bräutliche Liebe liebt zumeist nicht so sehr das persönliche Du, sondern vielmehr das idealisiert gesehene Ich. Sie ist entweder eine „Es-Liebe“, oder eine „Ich-Liebe“. „Es-Liebe“ heißt: ich liebe ein Ideal. „Ich-Liebe“ bedeutet: ich liebe im Gegenüber das Ich, so wie ich es mir als Ideal denke.
Sie verstehen sicher alle die Weisheit, die Paulus uns beibringt: „Einer trage des anderen Last!“ Was werde ich tun müssen? Ich trage mit dem Anderen nicht nur das hohe Ideal, sondern auch die Grenzen. Ich trage mit dem anderen auch die Last, die er selber trägt. Wir spüren, dass das, was Eigenart und Unart in uns ist, eine Last für uns bedeutet. Hier bin ich zu leicht empfindlich, auf der anderen Seite herrschsüchtig. Ich erlebe aber auch die Unart des anderen. Wenn ich Wandlungswunder wirken könnte, wie der Priester, wie der hl. Geist, dann hätten wir in absehbarer Zeit einen Idealstaat. Wie stark die Sehnsucht nach einem Idealreich ist, mögen Sie daraus sehen, dass die modernen Strömungen einen Idealstaat schaffen wollen, der kein Leid mehr kennt. Das sind Illusionen. Als Paar haben wir früher solche Illusionen gekannt: „Wenn ich erst verheiratet, dann …“ Die Zeit ist vorbei. Jetzt sind wir realistisch geworden. Nun spüren wir was das Ideal verlangt.
Letztlich konzentriert sich ein Großteil unseres Miteinanders auf die tragende und ertragende Liebe.
Wenn das nicht wäre, wäre alles ein seelisches Gegeneinander. […]

Das Kernstück ist die tragende und ertragende Liebe und wohl auch die bergende Liebe. Das ist das seelische Ineinander. Wir müssen einander so gern haben, bergen, dass wir auch die Grenzen tragen und ertragen. Wenn es bloß tragende und ertragende Liebe wäre, dann wäre die Liebe zweckeingestellt. […]

Wenn wir einander die Lasten tragen helfen, wachsen wir vielfach auch ineinander. Das Leben beweist das. Der Schwabe sagt: „man geht manchmal aneinander hinauf. Aber man geht auch wieder aneinander hinunter.“ Man wächst dann auch ineinander. So ist das praktische Leben! Das müssen Sie auf sich wirken lassen.

 

aus „Eine große Liebesschule“  Exerzitien für Schönstattmütter gehalten von J.K. am 04.-08.09.1950