Kind sein vor Gott
Exerzitienkurs über die Gotteskindschaft für die Patres im Kloster Bethlehem/Immensee
29.08 - 4.09 1937
3. Vortrag
30. August
Wenn zwei Wesen wirklich einander lieben, dann wird wirkliche Gleichheit verlangt - wenn auch nur im Sinne einer entsprechenden Ähnlichkeit -, also Gleichheit des Seins und Gleichheit der geistigen Fähigkeiten.
Angewandt auf Gott und uns: wenn der liebe Gott uns wirklich als Vater väterlich lieben soll, was muß dann verlangt werden? Sinngemäße Gleichheit. Freilich dürfen Sie in diesem Zusammenhang an die analogia entis erinnern: was ist das für eine Gleichheit? Das ist eine ungleiche Gleichheit oder eine ähnliche Ungleichheit. Es ist ein unendlicher Abstand, aber (die sinngemäße Gleichheit) genügt, daß wirklich Liebe möglich ist.
Also Gleichheit des Seins und der geistigen Fähigkeiten! Wir hörten heute mittag bei Tisch, daß zum Beispiel zwischen Mensch und Tier keine echte Liebe möglich ist, keine geistige Liebe. Weshalb nicht? Weil beide nicht Gleichheit des Seins haben.
Das allein genügt nicht - wenigstens nach salesianischer Theorie nicht; Sie tun gut daran, sich ein wenig daran anzuschließen -, es wird gleichzeitig Ungleichheit verlangt. Aber nicht schlechthin jegliche Ungleichheit ist Vorbedingung für wahre Liebe; denn wir sind alle untereinander ungleich, trotz aller Gleichheit. Eine naturhaft sprudelnde Liebe kommt nicht von heute auf morgen zustande. Darum meint Franz von Sales eine Ungleichheit im Sinne einer gegenseitigen Ergänzungsfähigkeit und -bedürftigkeit.
Hier müssen Sie stehenbleiben, vor allem jene, die später ein derartiges aszetisches System ausarbeiten wollen. Große psychologische Zusammenhänge sind notwendig.
Einige Punkte: Nehmen Sie an, da und da ist jemand Ihr Freund, und ich kenne Sie. Geben Sie mir dann zu, daß ich zum großen Teil auch Ihren Freund kenne? Worauf basiert dieses Kennen? Auf der Tatsache, daß Freundschaft - dasselbe gilt von jeder Art der Liebe -, daß wahre, echte Liebe naturhaft eine Ungleichheit im Sinne einer gegenseitigen Ergänzungsfähigkeit und -bedürftigkeit voraussetzt. Wenn ich also meinetwegen Sie als Choleriker kenne, dann werde ich a priori sagen dürfen: der betreffende Freund und so weiter ist sehr wahrscheinlich entweder ein Sanguiniker oder Melancholiker, weil echte Liebe als Voraussetzung immer eine Ergänzungsfähigkeit und -bedürftigkeit kennt. Ich muß mein Wesen in einem andersgearteten Wesen ergänzen. Wenn ich also einem Mitbruder, einem Mitmenschen ganz spontan mein Herz schenke, dann hat er sicher eine andere Art, jedenfalls wird er nicht ein Choleriker desselben Wassers sein wie ich.
Sie müssen erstmals länger bei diesem Gedanken stehenbleiben.
Denken Sie an Mutter und Kind, Vater und Kind! Wenn wahre mütterliche und väterliche Liebe gegenüber dem Kind möglich sein soll, muß dieses Gesetz bewahrheitet werden. Auch hier muß nicht nur Gleichheit des Seins und der geistigen Fähigkeiten, sondern auch Ungleichheit vorhanden sein im Sinne einer gegenseitigen Ergänzungsfähigkeit und -bedürftigkeit. Es ist klar: das kleine Würmchen in der Wiege ist ergänzungsfähig und -bedürftig durch Vater und Mutter. Aber jetzt die umgekehrte Frage: Sind Vater und Mutter auch ergänzungsbedürftig durch das Kind? Aber wahrhaftig! Überlegen Sie einmal, was das Kind durch seine Hilfsbedürftigkeit in Vater und Mutter an väterlicher und mütterlicher Gebefreudigkeit weckt! Beobachten Sie das Leben, beobachten Sie sich selbst, beobachten Sie zu Hause Ihren Bruder, Ihre Schwester! Wie häufig hören wir: mit dem oder der ist nichts anzufangen! Seit dem Moment aber, wo die Betreffenden Vater oder Mutter werden, ist eine neue Lebenskraft aufgebrochen. Weshalb? Weil kindliche Bedürftigkeit väterliche Kraft, väterliche Gebefreudigkeit und Formkraft geweckt haben. - Ich darf annehmen, daß wir einander verstehen. Das ist eigentlich der Punkt, von dem ich gleich ausgehen darf und muß.
Hören Sie noch einmal: Was setzt wahre Liebe voraus? Gleichheit, aber auch Ungleichheit im Sinne einer gegenseitigen Ergänzungsfähigkeit und -bedürftigkeit. Wenn Sie mich fragen: Gilt das auch, angewandt auf Gott?, so muß ich sagen, ja - mit einer kleinen Einschränkung: Hier können wir statt Bedürftigkeit Willigkeit sagen. Gott ist ergänzungswillig, und zwar ähnlich, wie wir ergänzungsbedürftig sind.
Was will das heißen? Wenn Gott seine Formkraft, seine erzieherische Fornkraft, seine vaterliche Güte, seinen väterlichen Reichtum entfalten soll, dann ist notwendig, daß sie von menschlicher Formfähigkeit, von menschlicher Hilflosigkeit geflveckt werde. Ich spreche ein großes Wort gelassen aus. Ich will das Wort wiederholen, dann verstehen Sie, was Pestalozzi will: Damit Gott seinen unendlichen Reichtum, damit Gott, der Himmelsvater, seine erzieherische Formkraft entfalten kann, ist von seiten des Menschen die Formfähigkeit und die Aufnahmefähigkeit notwendig.
Was heißt das praktisch? Von seiten des Menschen ist tiefe Kindlichkeit notwendig, sonst kann der liebe Gott seine Väterlichkeit nicht entfalten.
Vielleicht bleiben Sie für Ihr Denken hier noch ein wenig stehen, weil es von großer Bedeutung ist, den Gedanken klarzuhaben.
Sehen Sie: Gott ist ergänzungswillig, das heißt, der liebe Gott entfaltet seine erzieherische Formtätigkeit, der liebe Gott schenkt und verschenkt den ganzen Reichtum seiner Gaben und Gnaden an jene Geschöpfe, die sich schmiegsam, klein, demütig geben. Gott ist ergänzungswillig! Der Mensch, der sich Gott gegenüber als klein anerkennt, der Gott gegenüber seine Armseligkeit bekennt und anerkennt, ist in diesem Sinne Gott gegenüber »allmächtig«, und der allmächtige Gott ist eigentlich in diesem Sinne »ohnmächtig« . Erkannte und anerkannte Armseligkeit des Menschen gegenüber Gott bedeutet Ohnmacht Gottes und Allmacht des Menschen. Ich mag deswegen Gott weiß wie viele Sünden begangen haben, was aber ist das Schlimmste? Wenn ich mich Gott gegenüber zuschließe, wenn ich verhärtet bin - mit anderen Worten: wenn ich Gott gegenüber nicht klein und kindlich bin. Der kindlich-demütige Mensch erreicht von Gott alles, was er will. So sagen die Heiligen, so sagt es auch die Heilige Schrift - die Kleinen erhöht er (Lk 1,52). Grund: weil die Kleinen klein sind; und Gott kann eben nur kleine Kinder gebrauchen, er kann keine großen haben. So müssen Sie den Gedanken in naiver Weise überlegen.
Darf ich zusammenfassend sagen: Weshalb ist der verlorene Kindersinn das größte Unglück für die heutige Menschheit? Weil der verlorene Kindersinn Gott nicht Gelegenheit gibt, seinen Wesenszug, seine wesenhafte Tätigkeit als Vater zu entfalten. Weil Gott Vater ist, muß er - so sprechen wir in unserer vermenschlichten Denkweise - an der Menschheit herumarbeiten, bis sie wieder formfähig ist, bis sie klein geworden ist, bis sie sich wieder als Kind fühlt. Eine Menschheit, eine menschliche Gesellschaft, ein Individuum, das sich Gott gegenüber nicht klein gibt, ist entweder verloren, und zwar für immer, oder aber Gott arbeitet in seiner Güte darauf hin, daß das Menschlein, das so voll ist von sich, langsam ihm gegenüber sich wieder klein fühlt und gibt.