Pädagogische Tagung 1950
Grundriß einer neuzeitlichen Pädagogik für den katholischen Erzieher
Juli 1950
Zweite Teil
8. Vortrag
Es gibt auch eine Pädagogik - nicht so sehr ausgeprägt katholischer Art - aber doch »für die Hand des katholischen Erziehers«. Die Religion - das geben selbst jene zu, die anstatt Religion ihre Weltanschauung kennen - gibt uns klare Zielsetzungen und stellt uns entsprechende eigengesetzliche Mittel zur Erreichung des Zieles zur Verfügung. Die Gefahr ist heute gar zu groß, daß wir - dieweilen wir nichts wissen wollen von einer ausgeprägt katholischen Pädagogik - auf anderen Weideplätzen weiden und die Originalität unserer Zielsetzung und unserer Mittel vergessen.
Was ist denn zutiefst das Ziel der katholischen Erziehung? Die Antwort ist zunächst leicht. Vom pädagogischen Standpunkt aus ist das Ziel: Fähigkeit und Bereitschaft, selbsttätig und selbständig als Glied Christi das Leben eines Gotteskindes zu leben. Unterscheiden Sie hier bitte, was die Pädagogik zu der Formulierung beiträgt und was die Religion uns sagt. Letzten Endes ist in der katholischen Erziehung immer der dreifaltige Gott selbst, zumal der Gottmensch Jesus Christus, der Erzieher. Was wir dabei tun können, das ist ja nur Kleinarbeit.
Es ist doch eine ganz andere Kühnheit, die vom katholischen Erzieher und der katholischen Gefolgschaft verlangt wird, nämlich die Genialität der Naivität des Gotteskindes zu erstreben, als zum Beispiel in die Schule der Existentialphilosophie zu gehen. Oberall, wo ein Menschenbild geformt wird, ob beim Nationalsozialismus oder beim Kollektivismus, verlangt man heute Kühnheit. Die Fonnen der Kühnheit aber, die dort verlangt werden, bleiben stets auf dem rein natürlichen Boden. Sie gehen nur bis in die Nähe des »Göttlichen« und haben nicht den Mut, sich Gott und dem wahren Göttlichen zu überlassen. Diesen hat bloß derjenige, der von sich sagen kann: Ich ringe um die Genialität der Naivität. Das ist heute das Ziel der katholischen Erziehung. Sicher, wir sagen dafür in einer anderen Formgebung:
»Fähigkeit und Bereitschaft, selbsttätig und selbständig als Glied Christi möglichst vollkommen das Leben des Gotteskindes zu leben«.
Die Kühnheit der Genialität der Naivität
findet heute in ungezählt vielen Menschen gar kein Organ mehr. In die katholische Religion muß aber wieder Dynamik hinein ... Erinnern Sie sich an das, was wir in den ersten Tagen besprachen über das Ersterben, das Aus- und Eintrocknen der religiösen Anlage im Menschen, nicht bloß schlechthin in der Menschheit, sondern auch in unseren Kreisen. Wenn aber das religiöse Organ verkümmert, vielleicht gar erstorben ist, wie will man dann Sinn haben für die Genialität der Naivität!
Ich spreche nicht von der »Genialität der Primitivität«, sondern der Naivität, das heißt der gottgeprägten und gottgewollten Kindlichkeit. Die einen wollen nichts damit zu tun haben, weil ihr übernatürliches Vertrauen angekränkelt ist, die anderen, weil sie innerlich erstarren vor Stolz.
Sehen Sie, diese Genialität der Naivität schließt im Kern eine doppelte urgewaltige Kühnheit in sich: die Kühnheit des Heiligen und die Kühnheit des Sünders. Das ist gleichbedeutend mit der Kühnheit der Magnanimitas und der Kühnheit der Humilitas.
Erstens: Die Kühnheit des Heiligen.
Die Kühnheit der Magnanimitas kennt die Kühnheit des Verstandes, des Willens und des Herzens.
Der Verstand beugt sich gläubig einer jenseitigen, übernatürlichen Wirklichkeit. Der heilige Augustinus hat uns das klassische Wort überliefert: »Du, o Gott, warst bei mir, ich aber war außer mir.« Die Kühnheit des Heiligen wagt den Todessprung für den Verstand und sieht im Lichte des Glaubens überall Gott. Sie sieht nicht nur den Gott des Herzens, nicht nur den Gott unserer Altäre, sondern auch und vor allem den Gott des Lebens, den lebendigen Gott, der hinter jeglichem Geschehen und hinter allen Erscheinungen und Ereignissen des Lebens steht. Jede Situation des Lebens wird kraft dieser Kühnheit aufgefaßt wie ein Dom, auf dessen Spitze der lebendige Gott steht. Die Kühnheit besteht darin, daß in allen Lebenslagen gleichsam die »Leiter« angelegt wird für den Verstand und das Herz, um auf der Spitze Gott zu entdecken. Nach dem »Gesetz der geöffneten Tür« wittert, schaut diese Kühnheit im Dunkel des Glaubens den lebendigen Gott auch dort, wo nur ein Spalt in der Türe offen ist, und weiß sich todesmutig hineinzuwerfen in die Arme des lebendigen Gottes. Sehen Sie: das ist der Abgrund vom Diesseits zum Jenseits.
Existentialisten, wie sie heute auf unseren Universitäten am Werden und Wachsen sind, kennen auch eine Kühnheit. Auch sie sehen das Leben in seiner furchtbar verwirrten und verworrenen Situation und wissen, daß das heutige Leben Kühnheit verlangt. Das ganze Leben ist für sie ein »Sein zum Tode«. Und die Kühnheit, mit der dieses Leben gemeistert werden soll, ist eine Kühnheit der Verzweiflung. Anstatt daß ich mich kühn in den Abgrund Gottes hineinwerfe, besteht meine Küknheit darin, daß ich die Zähne aufeinanderbeiße und mich mit dem Mut der Verzweiflung in diesen Strudel, auf diese Eisscholle im Strom hinauswage. Die Kühnheit des Heiligen wagt den Todessprung in die Arme Gottes, den Todessprung des Herzens, den Todessprung des Willens. -
Sicher weiß diese Kühnheit um das Gesetz Gratia supponit non destruit naturam. - Die Gnade setzt die Natur als Träger, aber auch als mitwirkende und zielgebende Kraft voraus und zerstört sie nicht. Die Kühnheit des Heiligen weiß aber auch, daß das Ideal des Menschen nicht bloß darin besteht, den Ecce homo insofern darzustellen, als es sich um die Naturerhöhung und Naturvollendung handelt, sondern sie weiß auch um die Naturopferung. Die Kühnheit des Heiligen besteht darin, daß er den Mut hat, auch auf den Trümmern der kranken Natur ein »neues Gebäude« zu errichten. Ferner: Die Kühnheit des Heiligen sieht im Lichte des Glaubens nicht bloß die majestas divina; sie beugt sich auch vor dem Christus crucifixus. Sie will der Welt gekreuzigt sein, wie die Welt ihr gekreuzigt ist. Mit Paulus weiß diese Kühnheit allüberall Christus, »und zwar Christus als den Gekreuzigten«, zu künden (1 Kor 2,2).
Wenn ich als katholischer Erzieher diese Zielsetzung sehe und immer vor Augen haben, klingt das nicht ganz anders, als wenn ich immer bei den allgemeinen Gedankengängen stehenbleibe, wie sie heute in der pädagogischen Situation wieder und wieder zu finden sind! Noch einmal: Genialität der Naivität!
Mit der Kühnheit des Heiligen steht gleichzeitig vor uns die Kühnheit des Sünders.
Zur Magnanimitas gehört die Humilitas! Wie bedeutungsvoll ist heute die Kühnheit des Sünders, die die Sünde nicht bagatellisiert und spielerisch auffaßt! Nein, nein, sie erfaßt die Sünde vielmehr in ihrem Gewicht - pondus peccati -, nicht bloß als eine Verletzung des Gesetzes, sondern als eine persönliche Beleidigung der majestas divina. Die Kühnheit des Sünders wagt auch - nachdem die Sünde geschehen ist - kraftvoll Buße zu tun. Das ist die »Kühnheit des Räubers«, so wie sie in Calderons »Räuber« dargestellt wird, wo von der Andacht zum Kreuz die Rede ist. Der Räuber hat gesündigt, Sünde auf Sünde gehäuft. Er kommt zum Sterben. Nun die Kühnheit des Sünders: »Das Himmelreich leidet Gewalt« (Mt 11,22). Der Räuber hat die Kühnheit des Vertrauens: Er umarmt das Kreuz. Das Kreuz hat die Kraft, ihn zu entsühnen, ihn zu befreien. Das ist der ungeheure Abgrund, in den wir hineinspringen: der Abgrund der Glaubenswirklichkeit. Wir heutigen Menschen kennen ihn verzweifelt wenig; auch wir, die wir uns katholisch nennen, sind viel zu naturalistisch eingestellt. Die Pest des Naturalismus, die Pest des Laizismus findet sich auch dort, wo es sich um tief religiöse Menschen handelt, etwa um solche, die vielfach durch die Schule der Liturgie gegangen sind. Sie gehen mutig bis zum Abgrund; und wenn es hineingehen soll in den Abgrund der »Arme Gottes«, dann springen sie wieder rückwärts.
Der Sprung ins Übernatürliche ist das, was wir unserer Jugend heute darstellen müssen: den Todessprung ins Übernatürliche, ins Göttliche.
Sicher, - wir fallen unweigerlich in die Hand Gottes ...
Aber das ist ja das Wagnis: Ich weiß nicht, was der Herrgott morgen, übermorgen von mir verlangt; - ich weiß nur diesen einen Schritt. Glaubensmutig wage ich diesen Schritt und bin überzeugt: Gott wird mir das Türchen wieder öffnen. Das ist und bleibt halt der Wagemut, die Kühnheit des Heiligen, die Kühnheit des Sünders.
Kühnheit des Sünders ! Denken Sie an Pizzaro, den großen Eroberer Perus. Sünde um Sünde hat er auf sich gehäuft. Plötzlich trifft ihn ein feindliehes Geschoß, und er sinkt zusammen. Gesündigt hat er, das sieht er ein. Und er beugt sich, macht mit dem Finger aus dem Blutstrom ein Kreuz, küßt das Kreuz und wirft sich in die Hand des barmherzigen Richters. Das ist die Kühnheit des Sünders, die Kühnheit des Schächers, der neben dem Herrn am Kreuz hängt und gesteht: »Wir haben Übles getan . . .« Die Kühnheit des Sünders ist zugleich auch die Genialität der Naivität, die aber auch das Wort des Herrn hört: »Heute noch wirst du bei mir im Paradiese sein« (Lk 23, 43).
So hat es ja doch einen Sinn, wenn wir eine Pädagogik suchen, ausgeprägt für die Hand des katholischen Erziehers. Das gilt dort, wo es sich um die Zielsetzung handelt, aber auch dort, wo die Mittel zur Diskussion stehen.
Wenn Sie einmal überprüfen, was wir heute im Vereinsleben tun, so ist es im Kern genau dasselbe, was die anderen auch tun: Rein natürliche Mittel wissen wir anzuwenden. Ich erinnere mich: Als ich kürzlich Abschied nahm von Argentinien, traf ich den Bischof von Misiones. Er wollte wissen, was Schönstatt erstrebe. Als er von dem religiösen Ziel und den religiösen Mitteln hörte, sagte er: »Das ist genau das, was ich will. Das spüre ich hier in meiner Diözese: Wenn wir nicht übernatürliche Ziele mit übernatürlichen Mitteln erstreben, kommen wir niemals zum Ziel.« Wenn ich eine Pädagogik für die Hand des katholischen Erziehers suche, dann steht im Vordergrund der ganze Organismus der übernatürlichen Mittel, ob es sich nun um eucharistische oder marianische Erziehung handelt. Wir haben doch eine überaus hohe Zielsetzung. Was wollen wir erreichen? Klingt es uns noch in den Ohren, was wir als Ziel genannt? Da steht es klar vor uns: entweder »Heroismus der Kindlichkeit, vollkommene Gemeinschaft und kraftvoller Gestaltungswille« oder »Ecce-homo-Gestalt«.
Die Ecce-homo-Gestalt kennt Naturerhöhung, Naturvollendung und Naturopferung. Die Naturerhöhung will aber unter dem einen Gesichtspunkt gesehen werden: organisch einseitige religiös-sittliche Hochwertigkeit. Nur die übernatürlichen Mittel können uns nach dieser Richtung helfen. Gewiß, wir wollen den heutigen Zeitatem in uns aufnehmen und verarbeiten. Der heutige junge Mensch ringt um Icheroberung und kann deswegen nicht zufrieden sein mit bloß übernatürlichen Mitteln. Er braucht auch natürliche Mittel, zum Beispiel den Sport. Der Körper will sich entfalten. Das alles sollte aber immer nur Mittel zum Zweck oder Ausfluß der religiös-sittlichen Hochwertigkeit sein.
Von Anfang an hat der Unterschied zwischen der katholischen Jugendbewegung und der Schönstatt-Bewegung darin bestanden, daß wir mit einer unzweideutigen Klarheit eine religiös-sittliche Bewegung sein wollten, während die Jugendbewegung primär und vor allem Kulturbewegung sein wollte. Deswegen haben wir auch den Schwierigkeiten der Zeit kraftvoll gegenüberstehen können. Klar und klarer steht darum auch das Ziel vor uns, das wir heute künden: der organisch einseitig religiös-sittliche Mensch, die Ecce-homo-Gestalt, »Ecce homines!« und dem gegenüber »Ecce homo!«