Über die Heimat

2-5. Oktober 1951. Pädagogische Tagung

Elfter Vortrag

Der Heimatgedanke im Lichte der religiösen Sehnsucht 

Wenn der Bergsteiger ein großes Stück seiner Wanderung hinter sich hat, mag er bisweilen den Wunsch haben, stehen zu bleiben, auszuruhen, um den zurückgelegten Weg noch einmal zu überschauen, um auf diese Weise fähig zu werden, die letzte Strecke zu nehmen. Auch wir sind Bergsteiger. Wir wollten die Zufahrtsstraße zum Gipfel der Marienliebe, der marianischen Pädagogik freimachen. Wir haben ein Stück dieser Zufahrtsstraße zurückgelegt. Am Anfang dieser Straße stand die Sehnsucht nach einer ausgeprägt übernatürlichen Atmosphäre. Drei Meilensteine durften wir auf dieser Zufahrtsstraße signalisieren. Auf dem ersten Meilenstein stand das Wort erklären, auf dem zweiten Meilenstein klären. Hier sind wir lange stehen geblieben, haben den Gegenstand dieser Sehnsucht nach übernatürlicher Atmosphäre psychologisch analysiert. Wir haben die übernatürliche Welt als solche beiseite gelassen, haben von der menschlichen Tätigkeit her die Grundlagen der religiösen Erziehung und damit auch der religiösen Atmosphäre bloßgelegt.

Rückschauend dürfen wir sagen: Wir haben uns ein großes Stück einer modernen Pädagogik erarbeitet, freilich nur unter dem Gesichtspunkt der Eigentätigkeit. Wenn wir alles tun, was wir tun können, bleiben wir doch letzten Endes »unnütze Knechte« (Lk 17,10). Erziehung ist zutiefst doch Aufgabe des großen göttlichen Erziehers. Wir suchten nur die Hindernisse zu entfernen, suchten im gewissen Sinn ihm bloß in die Arme, in die Hände zu arbeiten: Wir überlassen den Zögling der schöpferisch gestaltenden Meisterhand und Meißlerhand des ewigen, göttlichen Pädagogen.

Das Heimatproblem, das Kulturproblem der heutigen Zeit

III. Die Verklärung der Sehnsucht nach einer übernatürlichen Atmosphäre,

      einer konkreten Form des ewigen Heimwehs

Der letzte Meilenstein will nun genommen werden. Darauf steht das Wort verklären. Was wollen wir verklären? Die Sehnsucht nach einer übernatürlichen Atmosphäre. Unter Verklären verstehen wir dieses Weiten, das Hineinstellen der Sehnsucht in letzte große Zusammenhänge. Das ist immer unsere Art gewesen, bei kleinsten Kleinigkeiten anzufangen und dann zum Letzten und Höchsten vorzudringen. Wir waren ja nie ruhig, bis wir dieses Ziel erreicht hatten. Wir möchten nicht nur in Personen ruhen und ausruhen, sondern auch immer in letzten Gedanken und Zusammenhängen. So wollen wir versuchen, die Sehnsucht nach der übernatürlichen Atmosphäre in diese großen Zusammenhänge hineinzustellen.

Am ersten Abend stellten wir bereits fest, dass die Sehnsucht nach der übernatürlichen Atmosphäre eine konkrete Form des ewigen Heimwehs ist. Das ewige Heimweh weist in die ewige Heimat! Hier wollen wir nun ansetzen... Der Gegenstand weitet sich, und der Verstand kann sich weiden an dem starken, hellen Licht, das er im Heimatgedanken findet. Auch Herz und Wille wollen sich weiten: Der Heimatgedanke soll wach werden, der Heimatsinn und die Heimatliebe.

Da haben wir ein Dreigestirn von Gedanken. Rufen Sie die Gedanken einmal hinaus in die heutige Zeit und Welt! Lassen Sie dieses Dreigestirn hineinleuchten in das Dunkel der heutigen Zeit! Wie mag das Echo sein? Überaus vielstimmig und vielgestaltig. Es kann uns nicht schwer fallen, aus dem Stimmengewirr, das uns entgegenrauscht, im wesentlichen zwei Momente herauszuhören.

Das erste Moment: Das Heimatproblem dürfte in der Weite, wie wir es verstanden wissen wollen und darstellen dürfen, letzten Endes das Kulturproblem der heutigen Zeit sein. Deswegen ist Heimatlosigkeit das Kernstück der heutigen Kulturkrise. Freilich Heimatlosigkeit in dem endlos weiten Sinn, wie wir es meinen. Heimat! - Das Wort, der Lebensvorgang, der damit gemeint ist, kann in verschiedenem Sinn gesehen und gesichtet werden: Wir können sprechen von einer lokalen, einer geistigen und einer metaphysischen Heimat oder von einer geistigen, seelischen und örtlichen Heimat. Die Formulierungen überschneiden sich. Später werden wir sehen, was die einzelnen Ausdrücke zu besagen haben.

Ein zweites Moment: Werden wir uns hier noch einen Augenblick bewusst, wie diese Heimatlosigkeit per eminentiam: aussieht, dann brauchen wir bloß auf den heutigen Menschentyp hinzuweisen: auf den kollektivistischen Menschen, dessen Seele geprägt ist durch diese allseitige Heimatlosigkeit. Der kollektivistische Mensch ist der radikalisierte, alle gottgewollten Bindungen von innen heraus absolut verneinende Massenmensch. Mit Recht dürfen wir sagen: Er ist der allseitig entheimatete Mensch. Alle Bindungen sind radikal gelöst: die Bindung an Gott, an die Scholle, an den Mitmenschen. Diese vielgestaltige vollendete Heimatlosigkeit darf in einem durchaus berechtigten Sinn des Wortes »Höllenstrafe« genannt werden (Vgl. das kulturkritische Drama Jean Paul Sartres: Bei verschlossenen Türen; dazu Gabriel Marcel: Der Mensch als Problem, a.a.O., und seine Stellung zu Sartres anthropologischer Konzeption, S. 106 ff. ). Das Wesen der Hölle besteht in vollendeter Heimatlosigkeit, im seelischen Gegeneinander. So gesehen, leben ungezählt viele heutige Menschen zum großen Teil schon in einer Art Hölle. Sie ist vollendete Heimatlosigkeit, seelisches Gegeneinander zwischen Seele und Gott und zwischen Mensch und Mensch.
Von hier aus dürfte es uns nicht schwer fallen, den modernen Menschen auf den Himmel hinzuweisen. Das Wesen des Himmels besteht in der visio beata, in einem seelischen Ineinander zwischen Mensch und Gott und damit gleichzeitig zwischen Mensch und Mensch in geheimnisvoller Tiefe. Menschen, die hier auf Erden zueinander gefunden haben, werden in der ewigen Seligkeit vertieft und vervollkommnet dieses seelische Ineinander erfahren dürfen.

Unsere gesamte heutige abendländische Kultur ist auf dem Weg einer vielgestaltigen, ja allseitigen Heimatlosigkeit. Damit ist sie also irgendwie auf dem Weg zu einer irdischen Hölle und nicht auf dem Weg zum Himmel, auch nicht auf dem Weg zu einer Art irdischem Himmel. "Die Krähen schrein -Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: -Bald wird es schnein, - Weh dem, der keine Heimat hat!"

(Friedrich Nietzsche: Vereinsamt)

Wenn in der Natur eine Katastrophe bevorsteht, dann sind es die Tiere, die sie zuerst wittern. Da wollen auch die Krähen draußen vom Felde heim, wollen zu den Wohnungen der Menschen. Wehe der Krähe, die in dieser Katastrophe keinen Platz findet! Welche Krähen sind heute gemeint? Das sind die Menschen. Das ist das Menschengewimmel. Unruhig sind sie geworden, denn eine Kulturkatastrophe steht bevor. Sie »ziehen schwirren Flugs zur Stadt ...« Was für eine Stadt ist gemeint? Offenbar eine geheimnisvolle Stadt, denn alle irdischen Städte werden mehr und mehr in die Kulturkrise hineingezogen. Der Urtrieb des Menschen nach Heimat, der hier keine Antwort findet, hört ein Wehe! Wehe! »Weh dem, der keine Heimat hat!«

Geschichte Heimatlosigkeit wächst auch in unseren eigenen Kreisen. Fremde Völker, die unsere Gegend in der Kriegs- und Nachkriegszeit überflutet haben, ließen fremde Denkweise, fremde Kultur zurück. Viele von uns mögen heimatlos geworden sein. Sie vermögen zwar das Wort Heimat zu wiederholen, können aber das Wesen der Heimat nicht mehr verstehen. Sie setzen Heimat gleich mit einem gefüllten Beutel, mit einem gewissen Wohlstand. Darin liegt noch keine Heimat. Ich kann Heimat haben und hungrig sein, Heimat haben und arm sein. Ich kann einen gefüllten Magen und einen gefüllten Beutel haben und vollkommen heimatlos sein und werden.

Wo liegt nun die große Aufgabe, das große pädagogische Problem? Das Kernstück der heutigen Erziehung in und außerhalb der Schule müsste schlechthin die Beheimatung, die Heimatpflege sein. Heimatlosigkeit, Entheimatung will ergänzt und ersetzt werden, will ein- und ausmünden in die Rückeroberung der Heimat, des Heimatgedankens, des Heimatsinns und der Heimatliebe.

Weil wir mitten im Leben stehen, umspült werden von der modernen Problematik und Not, ist es uns bekannt, wie nach allen Richtungen wieder und wieder Versuche gemacht werden zur Rückeroberung der Heimat. Heim- und Heimatabende werden veranstaltet. In den Schulen der ländlichen und städtischen Bevölkerung soll der Heimatsinn neu geweckt werden, die Heimatliebe vertieft und der Heimatgedanke als ein Zentralgedanke der ganzen Erziehung festgehalten werden. Solche Versuche sind da und dort geglückt, da und dort missglückt. Zumeist mangelt, wie durchweg in der heutigen Zeit, die Einsicht in tiefere, letzte Zusammenhänge. Und hier beginnt unsere Arbeit. Haben wir nicht die Gottesmutter am ersten Abend gebeten, sie möchte mir persönlich Einsicht geben, damit es mir glückt, mit Ihnen die Wurzel der modernen
Das Wesen der Heimat volkstümlich gesehen

Problematik bloßzulegen? Meine Aufgabe soll nunmehr darin bestehen, möglichst aus letzten Gründen und Prinzipien heraus zwei Fragen zu beantworten:

1. Erste Frage: Was verstehen wir unter Heimat?

2. Zweite Frage: Welche Funktion hat die Marienverehrung, wo es sich um Heimat, Heimatgedanken, Heimatsinn, Heimatliebe handelt? Welche Funktion hat sie im Rahmen der heutigen Kulturkrise und ihrer Überwindung?